Seit kurzem kann man die Serie „Squid Game“ auf Netflix ansehen und wir haben das Review dazu:
Kaum eine Serie ist momentan derart im Gespräch wie der südkoreanische Netflix-Hit „Squid Game“ vom Regisseur Hwang Dong-hyuk, der auch für die Idee und das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Am 17. September 2021 auf Netflix veröffentlicht, avancierte die neunteilige Serie innerhalb weniger Wochen zum bislang erfolgreichsten Serienstart des Streaming-Dienstes. Doch greift „Squid Game“ auch auf Bereiche außerhalb seiner Plattform und generell des Fernsehens auf, beeinflusst die Serie doch unter anderem die sportliche Betätigung auf Kita-Höfen sowie ganz aktuell die nicht unkontroverse Kostümgestaltung zu Halloween. Man darf wohl sagen, dass „Squid Game“ ein noch junges, aber bereits jetzt einflussreiches popkulturelles Phänomen unserer Zeit darstellt. Was aber ist dran an dem Hype? Wir haben es uns natürlich nicht nehmen lassen, die Serie zu sichten und unseren detaillierten, aber spoilerfreien Eindruck zu teilen.
Story:
Seong Gi-hun (Lee Jung-jae) ist hochverschuldet und lebt mit seiner Mutter in einer kleinen, schäbigen Wohnung. Seine Tochter lebt bei seiner geschiedenen Frau, und nachdem deren Lebensgefährte ein aussichtsreiches Jobangebot in den USA bekommt, droht Gi-hun die Gefahr, seine Tochter nie wieder zu sehen, sollte sich seine finanzielle Lage nicht aufbessern und er somit eine Aussicht auf das Sorgerecht bekommen. Eines Tages bietet ihm ein mysteriöser Fremder die Gelegenheit, sich für einen Wettbewerb zu melden, der dem Gewinner ein Preisgeld von 45,6 Milliarden Won (umgerechnet ca. 33 Millionen Euro) in Aussicht stellt. Neben Gi-hun finden sich 455 weitere Teilnehmer zu dem mysteriösen Spiel ein, das sechs Runden dauern soll. Schon bald aber stellen sie fest, dass diese Spielrunden für die Verlierer tödlich enden…
Eindruck:
Filme oder Serien, die das Prinzip des Battle Royale behandeln – also einen Wettkampf, bei dem nach und nach Teilnehmer ausgeschaltet werden, bis ein Sieger übrig ist –, sind längst keine Neuheit. Da ist, um nur zwei besonders populäre Beispiele zu nennen, der 2000 erschienene japanische Klassiker „Battle Royale“, da ist natürlich die „The Hunger Games“-Reihe (welche im Grunde, man möchte fast sagen hollywoodtypisch, nichts anderes ist als eine verweichlichte und inhaltlich weit weniger raffinierte Neuinterpretation des japanischen Films). „Squid Game“ ließe sich auf den ersten Blick damit vergleichen, verfolgt jedoch einen anderen Ansatz. Dies beginnt schon bei den Präliminarien: Die Spieler werden hier nicht per Los einberufen oder anderweitig zur Teilnahme gezwungen, es handelt sich ausnahmslos um Freiwillige. Zunächst wissen sie nicht, worauf sie sich da genau einlassen, doch alleine die Aussicht auf ein stattliches Preisgeld für den Sieger lockt zur Teilnahme, und es ist eben jene Aussicht, die später, nachdem die Natur des todbringendes Wettkampfs offenbar wurde, auch für die Fortführung des Spiels sorgt.
Bei den Teilnehmern handelt es sich ausnahmslos um Menschen aus prekären wirtschaftlichen Umständen mit hohen Schulden und finanzieller Aussichtslosigkeit – der Protagonist Gi-hun, in dessen Lebensrealität die Serie zunächst einführt, steht somit als Fallbeispiel für die ganze Gruppe. Aus Sicht der Teilnehmer scheint die Partizipation am „Squid Game“ die einzige noch bleibende Perspektive zu sein. Die Serie übt Kritik an einem kapitalistischen System, in dem die finanziell Aussichtslosen auch die hohe Wahrscheinlichkeit des eigenen Ablebens billigend in Kauf nehmen, da sie, wenn sie nicht gerade siegreich aus dem Spiel zurückkehren, ohnehin keine nennenswerte Perspektive mehr für sich sehen.
Doch auch mit Sozialkritik, gerade innerhalb des Teilnehmerkreises, hält sich „Squid Game“ nicht zurück. Die Serie vermittelt nicht einfach ein Schwarz-Weiß-Schema zwischen „reich“ und „arm“, sondern zeigt ein differenziertes Bild genau derjenigen, die anfangs als bedauernswert vorgestellt werden. Sie stellt nicht nur zu Beginn, sondern durchgehend die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zum Geld und ergründet, wie weit die eine oder andere Person für den Gewinn zu gehen bereit ist. Und welchen Stellenwert haben moralische Grundsätze eigentlich noch in einer Situation, in der es schlussendlich um das eigene Überleben geht? Auch dies ist eine ausführlich behandelte Thematik der neun Folgen.
Bei einem Projekt wie „Squid Game“ stellt sich auf der Metaebene natürlich auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Zuschauer und dem Gezeigten. In Bezug auf die bereits erwähnten Werke „Battle Royale“ und „The Hunger Games“ gab oder gibt es die eine oder andere Argumentation, dass der gezeigte Wett- und Überlebenskampf, auch wenn ihn der jeweilige Film in ein kritisches Licht stellt, doch eine Verherrlichung erfährt, weil er dem Zuschauer letztlich als Unterhaltungsmittel dargebracht wird. Es sei an dieser Stelle meine persönliche Auffassung betont, dass diese Sichtweise durchaus nachvollziehbar, es jedoch nicht moralisch verwerflich ist, derartige Filme mit Spannung mitzuverfolgen. Wirklichen Genuss dürfte bei den Gewalt- und Sterbeszenen in „Battle Royale“ oder „The Hunger Games“ kaum jemand empfinden, schon alleine deshalb, weil sie gar nicht erst in einer ästhetischen Form präsentiert werden, welche diese Gewalt genießbar oder gar künstlerisch ansprechend machen würde, wie wir dies bei stark ästhetisierten Filmen wie beispielsweise „John Wick“ oder „Kill Bill“ vorfinden.
Wie liegt der Fall nun konkret bei „Squid Game“? Als gesichert kann gelten, dass auch hier in großem Stil gestorben wird. Der Bodycount ist sehr hoch und die Serie spart auch Details wie blutige Kopfschüsse in Nahaufnahme oder nach einem Sturz zerquetschte und deformierte Körper nicht aus. Objektiv betrachtet sind die gezeigten Szenen degoutant, beschönigend oder verharmlosend wirkt hier nichts – dennoch (oder gerade deswegen?) fesselt das Geschehen den Zuschauer an den Bildschirm. Man darf spekulieren: Vielleicht weckt es den Voyeur, der weiß, dass er sich diese Szenen unbehelligt ansehen kann, weil es sich um eine Serie und nicht um echte Aufnahmen handelt? Auch hierauf findet die Serie eine geniale und pointierte Antwort – welche einen häufig genannten Kritikpunkt darstellt, was insofern schade ist, als die Kritik den Hintersinn verkennt.
Die Stellungnahme der Serie selbst erfolgt nämlich durch die sogenannten „VIPs“. Dies sind Nebencharaktere, die zum Ende hin eingeführt werden und mit ihrem Reichtum nichts besseres anzufangen wissen, als sich das „Squid Game“ aus nächster Nähe persönlich anzusehen. Ja, diese VIPs sind (in deutlichem Gegensatz zum hervorragend agierenden Hauptcast) völlig überzeichnet gespielt und dargestellt – doch liegt genau hierin die Genialität. Das Überzeichnete und Karikaturartige ist hier nicht auf handwerkliche Schwächen beim Casting oder Drehbuchschreiben zurückzuführen, sondern trägt auf der Metaebene ganz bewusst Relevanz. Die auf diese Art und Weis ins Lächerliche gezogenen VIPs stellen eine Kritik am Voyeurismus des Zuschauers dar, der sich an den brutalen Spielen erfreut. Und während „Squid Game“ eben durchaus Spaß macht und letztlich auch Spaß machen darf, bietet genau das einen Anhaltspunkt, über die Kehrseite der Medaille zu reflektieren und das eigene Sehverhalten durchaus auch zu hinterfragen.
Wie aber kommt es, dass „Squid Game“ bei all den sehr ernsten Untertönen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht und all der Brutalität auch Spaß macht? Das liegt nicht nur an den bereits erwähnten Hauptdarstellern, sondern auch und in besonderem Maße am äußerst hochwertigen visuellen Stil der Serie. Wer südkoreanische Filmproduktionen goutiert, weiß, dass sie sich oft durch ihre Bildästhetik hervorheben. In dieser Hinsicht lässt „Squid Game“ kaum einen Wunsch offen. Die Serie ist wunderschön anzusehen und wahrhaft atmosphärisch. Die unterschiedlichen Setpieces bei den Spielrunden sind ebenso liebe- und mühevoll eingerichtet wie die verschiedenen und abwechslungsreichen Räumlichkeiten der Anlage, in der das Spiel stattfindet. Die Diskrepanz zwischen dem spärlich ausstaffierten Schlafraum der Spieler und den pompösen, dekadent-luxuriösen Räumlichkeiten, von denen aus die VIPs später dem Geschehen zusehen, fällt direkt ins Auge. Jeder Raum und jeder Korridor sieht dabei genau so aus, wie es für den jeweiligen Zweck und im jeweiligen Kontext passend und stimmig ist.
Ein echter Hingucker und letztlich mitverantwortlich für die oben angesprochene derzeitige Halloween-Kontroverse sind zudem die Uniformen des Personals, das den Spielern Anweisungen gibt, sie überwacht und gegebenenfalls exekutiert. Die hellroten Overalls und die blickdichten schwarzen Masken mit je einem weißen Kreis, Kreuz oder Dreieck wirken jetzt schon kultverdächtig. Vor allem aber unterstreichen sie die Bedrohlichkeit dieser Wachen, welche nur das Nötigste sprechen und ansonsten durch ihre Masken hindurch gerne regungslos ins Gesicht des Gegenübers starren. Besonders gelungen im Hinblick auf Designs ist zudem die Figur des sogenannten „Front Man“, der die Spiele in oberster Instanz leitet und überwacht und dessen eigentliche Identität erst gegen Ende enthüllt wird. Sein grauer Mantel und die schwarze Maske unterstreichen seine geheimnisvolle Aura derart gekonnt, dass man sich schon alleine deswegen über jede Szene mit ihm freut. Dass Netflix die Serie überdies in 4K offeriert, macht all die optischen Reize, die „Squid Game“ bietet, umso genießbarer.
Fazit:
Gänzlich frei von Schwächen ist „Squid Game“ nicht. Manche Folgen weisen die eine oder andere dezente Länge auf und auch die Plottwists, die zum Ende hin losgelassen werden, entfalten nicht ganz die intendierte Wirkung. Im Gesamtbild wurde hier aber so viel richtig gemacht, dass dies kaum ins Gewicht fällt. „Squid Game“ ist ganz großes Kino in Serienform, das sich gekonnt mit kritischen Themen auseinandersetzt und zur Reflexion anregt. Zudem handelt es sich zweifelsfrei um eine der optisch und stilistisch hochwertigsten und brillantesten Serien, die sich derzeit finden lassen. Der Erfolg der Serie ist nicht nur verdient, er führt natürlich zur momentan ebenfalls immer wieder aufkommenden Frage, ob es eine zweite Staffel geben wird. Den Weg dorthin ebnet das Ende in jedem Fall. Wir sagen entschieden: Ja, bitte!
Hier erhältlich:
(Pascal Weber)
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