Der Film „Drive my Car“ kommt am heutigen 23. Dezember in die Kinos und wir haben schon jetzt das Review dazu:
Bereits 2018 erhielt der japanische Regisseur Hamaguchi Ryūsuke (um hinsichtlich späterer Namen einer möglichen Irritation vorzubeugen: dieses Review orientiert sich am japanischen Namenssystem, bei welchem der Nachname zuerst genannt wird) für seinen Film „Asako I & II“ eine Einladung zu den Filmfestspielen von Cannes, ging jedoch leer aus. Auf den diesjährigen 74. Internationalen Filmfestspielen von Cannes gewann Hamaguchis neuester Film „Drive my Car“ mit dem Preis für das beste Drehbuch, dem FIPRESCI-Preis sowie dem Preis der Ökumenischen Jury dafür gleich drei Auszeichnungen. Neben dem großartigen und kürzlich rezensierten Musical-Drama „Annette“ von Leos Carax dürfte es sich bei „Drive my Car“ damit um eines der größten Highlights der heurigen Filmfestspiele gehandelt haben.
Story:
Der Bühnenschauspieler und Theaterregisseur Kafuku Yūsuke (Nishijima Hidetoshi) leidet unter dem zwei Jahre zurückliegenden Tod seiner Frau Oto (Kirishima Reika) an einem Herzversagen. Er nimmt das Angebot wahr, eine in Hiroshima geplante Aufführung des Stückes „Onkel Wanja“ von Antonin Tschechow zu inszenieren, in dem er einst die Titelrolle gespielt hatte. Doch nicht nur setzt es Yūsuke zu, dass es sich beim jetzigen Hauptdarsteller um Takatsuki (Okada Masaki) handelt, einen einstigen Liebhaber seiner verstorbenen Frau. Die Agentur verbietet es ihm auch, selbst mit dem Auto zu den Proben zu fahren und stellt ihm die junge Watari Misaki (Miura Tōko) als Chauffeurin zur Seite. Je besser Yūsuke die zunächst eher wortkarge Fahrerin kennenlernt, desto mehr erfährt er über einen schweren Schicksalsschlag aus ihrer Vergangenheit, an dem sie, ähnlich wie der Fall bei ihm liegt, nach wie vor leidet.
Eindruck:
Als Kritiker tut man oftmals gut daran, sich nicht sofort nach Sichtung eines Films an das Review zu setzen, sondern das Gesehene erst einmal atmen und sich entfalten zu lassen. Wirklich gute Filme zeichnen sich nämlich mitunter dadurch aus, dass sie nachwirken und nachhaltig für Erkenntnisgewinn sorgen. Um einen solchen Film handelt es sich auch bei „Drive my Car“. Wenn der Abspann einsetzt, meint man, die Geschichte und die Charaktere gut erfasst zu haben. Tatsächlich wird die Handlung auch stringent und schlüssig in einer Art und Weise erzählt, welche die wichtigsten Fragen beantwortet, die sich im Laufe des Films ergeben. Gleichzeitig jedoch ist „Drive my Car“ mit zunächst eher nebensächlich wirkenden Einzelheiten angereichert, die in der Rückschau umso interessanter werden und zum Nachdenken anregen.
„Drive my Car“ ist zunächst kein Film, der einer besonders auffallenden Bildästhetik folgt. Die visuelle Gestaltung ist eher minimalistisch angelegt, was sie sehr nahbar wirken lässt. Nicht von ungefähr kommt es, dass Regisseur Hamaguchi als Vertreter des Realismus gilt. Im Zusammenspiel mit der sehr ruhigen Erzählweise des Films, seiner Dialoglastigkeit und nicht zuletzt seiner stolzen Lauflänge von drei Stunden verlangt dies dem Zuschauer einiges an Durchhaltevermögen ab. Ein Film für den Mainstream und dessen Sehgewohnheiten ist „Drive my Car“ wahrlich nicht. Dies bedeutet jedoch mitnichten, dass im Laufe der 179 Minuten Langeweile aufkäme – dafür sind die Hauptfiguren und die Geschichte, welche sie verbindet, viel zu interessant angelegt.
Das zentrale und sowohl aus philosophischer als auch psychologischer Sicht relevante Thema des Films ist der Umgang mit der Vergangenheit und deren dysfunktionale Auswirkung auf die Gegenwartsgestaltung. Im Kern handelt die Geschichte davon, sich selbst im Jetzt zu verorten und sich dort, losgelöst von allen Kapriolen, die das Schicksal in der Vergangenheit schlug, neu zu manifestieren. Das macht der Film in erster Linie an Yūsuke, zunehmend aber auch an Misaki fest. Beide Figuren ringen seelisch damit, was in der Vergangenheit jeweils vorgefallen ist und führen ihr Leben in der Gegenwart mit entsprechenden Beeinträchtigungen. Im Falle Yūsukes sind es der Tod seiner Frau Oto, an dem er sich einen Teil der Schuld zuschreibt, sowie die nie vollends aufgearbeitete Erkenntnis, dass sie Intimitäten mit anderen Männern austauschte. Bei Misaki ist es der Tod ihrer Mutter durch ein Unglück, zu der sie ein (im wahrsten Sinne des Wortes) zwiegespaltenes Verhältnis hatte. Wie diese Schicksalsschläge aus der Vergangenheit in die Gegenwart übergreifen und welche Wege beide Hauptfiguren nach und nach gehen, um damit ins Reine zu kommen, das erzählt der Film in seiner langen Laufzeit ausführlich und mit unmittelbarer Nähe zu den Protagonisten.
Es ist dabei eine der größten Stärken des Films, wie er das Verhältnis zwischen Yūsuke und Misaki ausarbeitet. Nicht zuletzt im Hinblick auf Yūsukes vorausgegangenen Verlust seiner Ehefrau wäre es all zu naheliegend, als Zuschauer die Erwartungshaltung aufzubauen, dass es zwischen ihm und Misaki zu einer romantischen Annäherung kommt. Vergleichbare Entwicklungslinien ließen sich schon in unzähligen Filmen beobachten, und ein Film mit einem schwächeren und einfallsloseren Drehbuch wäre diesen Weg bestimmt gegangen. „Drive my Car“ schlägt jedoch eine erfrischend andere Richtung ein. Die anfangs unterkühlte und distanzierte Beziehung zwischen Yūsuke und Misaki intensiviert sich zusehends, eine Romanze spielt dabei jedoch keine Rolle. Es entwickelt sich vielmehr eine glaubhaft und authentisch wirkende freundschaftliche Beziehung zwischen diesen beiden seelenverwandten Menschen. Damit unterläuft „Drive my Car“ den gängigen und klischeehaften Erzähltopos, dass ein alleinstehender Mann und eine alleinstehende Frau zwangsläufig im Sinne einer Liebesbeziehung zusammenfinden müssen.
Wenngleich es über „Drive my Car“ und seine Teilaspekte noch eine ganze Menge zu sagen gäbe, ist es insbesondere der Schluss, der – natürlich ohne etwas Wesentliches vorweg zu nehmen –besondere Erwähnung verlangt. Er hebt sich vom Rest des Films insofern ab, als er einer gewissen Ambiguität unterliegt und in mehrere Richtungen deutbar ist. Damit gelingt es „Drive my Car“ im Grunde, eine in ihrer Kernaussage und Entwicklung eindeutige Geschichte zu erzählen, deren perfektes Ende, je nach Gusto, im Kopf des Zuschauers verfasst werden kann.
Fazit:
Es hat etwas Hoffnungsvolles, zu beobachten, wie trotz gewisser Umstände nach und nach wieder Leben ins Kino zurückkehrt. Kurz vor Jahresende darf man rückblickend festhalten, dass 2021 gerade vor dem Hintergrund der Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkungen nicht das schlechteste Film- und Kinojahr war. „Drive my Car“ leistet hierzu einen Beitrag, der lobend zu erwähnen ist. Der Film richtet sich nicht an die breite Masse und wird daher wohl zu Unrecht ein Dasein im Schatten großer Blockbuster fristen. Den Cineasten unter den Filmliebhabern soll er jedoch als Geheimtipp wärmstens empfohlen sein.
(Pascal Weber)
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